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gotisch

Formbeschreibung

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gotisch Adj., Vorkommen im Korpus: 46

Allgemeiner Kommentar

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Zu got. Gutþiuda ‚Volk der Goten‘.

Bedeutungsbeschreibung

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1.) überladen und bizarr und darum geschmacklos
[ausgehend von der italienischen Renaissance, die dem Mittelalter die Abweichung von den Formen und Verhältnissen der Antike vorwarf, wurde das Wort zur Bezeichnung alles dessen verwendet, was den Vorstellungen der Zeit von harmonischen Proportionen widersprach, nicht nur in Architektur und Malerei, sondern auch in der Natur, im Betragen etc.]
Der Hauptzauber dieses Tals liegt aber gewiß in dem Umstand, daß es nicht zu groß ist und nicht zu klein, daß die Seele des Beschauers nicht gewaltsam erweitert wird, vielmehr sich ebenmäßig mit dem herrlichen Anblick füllt, daß die Häupter der Berge selbst, wie die Apenninen überall, nicht abenteuerlich gotisch erhaben missgestaltet sind, gleich den Bergkarikaturen, die wir eben sowohl wie die Menschenkarikaturen in germanischen Ländern finden: sondern, daß ihre edelgeründeten, heiter grünen Formen fast eine Kunstzivilisation aussprechen, und gar melodisch mit dem blaßblauen Himmel zusammenklingen. (H Rb 400)


2.) charakteristisch für den die Zeit zwischen dem 13. und dem 15. Jh. prägenden, als originär deutsch angesehenen Baustil, der in den Augen der Zeitgenossen des 18. und 19. Jahrhunderts vor allem durch die Höhe und Anzahl der Säulen, die schlanke, spitzbogige Form der Fenster und die Höhe der Räume an sich geprägt ist, und auch historisierend wieder aufgegriffen werden kann
[diese Bedeutung ist erst im 19. Jh. nachweisbar. Der früheste Beleg stammt aus Heines "Reisebildern"]
Wir lernten an dem Alten; aber wir ahmten es nicht nach, wie es noch zuweilen in der Baukunst geschieht, in der man in einem Stile, zum Beispiele in dem sogenannten gotischen, ganze Bauwerke nachbildet. (Stf Nso 96)


3.) charakteristisch für die Kunstepoche, die im deutschsprachigen Raum das 13., 14. und 15. Jahrhundert umfaßt und in den Augen der Zeitgenossen des 18. und 19. Jahrhunderts vor allem durch die Höhe und Anzahl der Säulen, die schlanke, spitzbogige Form der Fenster und die Höhe der Räume an sich geprägt ist
[diese Bedeutung festigt sich erst Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Entstehen der kunsthistorischen Wissenschaft. Bis dahin (und häufig auch danach) ist zwischen Stil- und Epochenbegriff oft nur schwer zu unterscheiden]
Oberhalb des Mittelstückes war ein Giebel mit der emporstrebenden durchbrochenen Arbeit, die man, wie Eustach meint, fälschlich die gotische nennt, da sie vielmehr mittelalterlich deutsch sei. (Stf Nso 287)


4.) düster, geheimnisvoll (und daher unheimlich)
[im Zuge einer romantischen Faszination für das Mittelalter]
Diese Nachtigall, die zärtlich / Ihre Liebeslieder sang / In der Dunkelheit der gotisch / Mittelalterlichen Nacht! (H Rom 644,229-232)


5.) vom germanischen Volk der Goten hervorgebracht, diesen zugehörig
[über die Goten ist im Belegzeitraum nur wenig bekannt. Sie werden als Gegner der Römer genannt, meist werden sie, ähnlich wie Vandalen oder Hunnen, mit Barbarentum gleichgesetzt. Bis ins 19. Jh. hinein gelten sie einigen auch als Schöpfer der gotischen Baukunst, meist abwertend, oder, wenn sie als frühe Deutsche angesehen werden, positiv konnotiert]
Ich betrachtete diese Frau mit derselben Aufmerksamkeit, wie irgend ein Antiquar seine ausgegrabenen Marmortorsos betrachtet, [...] ich konnte die Spuren aller Zivilisationen Italiens an ihr nachweisen, der etruskischen, römischen, gotischen, lombardischen, bis herab auf die gepudert moderne (H Rb 347)


6.) barbarisch-nordisch-katholisch
[auf eine Epoche des Verfalls edler antiker Reinheit bezogen]
toskanische Nächte, du hellblauer Himmel mit großen silbernen Sternen, Ihr wilden Lorbeerbüsche und heimlichen Myrten, und Ihr, o Nymphen des Apennins, die Ihr mit bräutlichen Tänzen uns umschwebtet, und Euch zurückträumtet in jene besseren Götterzeiten, wo es noch keine gotische Lüge gab, die nur blinde, tappende Genüsse im Verborgenen erlaubt und jedem freien Gefühl ihr heuchlerisches Feigenblättchen vorklebt. (H Rb 420)


7.) gebrochen, dornig bzw. in anderer Weise typisch v. a. für Schriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit wie z. B. Textura oder Fraktur
[die gotische Schrift wurde als die deutsche Schrift (im Gegensatz zur lateinischen) angesehen, da das Gotische als Vorstufe des Deutschen galt]
Er nahm die kleine silberne Gabel, welche fast noch eine Kindergabel war und schon viele Jahre gebraucht schien, noch einmal in die Hand und betrachtete sie, und als er sah, daß der Name »Dorothea« höchst sauber in kleiner gotischer Schrift darauf graviert war, legte er das Instrumentchen so schleunig wieder hin, als ob es ihn gestochen hätte (Ke 1GH 803)


Differenzkommentar

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Die auf Kunst (meist Architektur) bezogene Verwendung wurde durch das Italienische, Französische und Englische beeinflußt, wo die entsprechenden Bezeichnungen meist negativ konnotiert sind. Diese Abwertung gotischer Kunst als barbarisch und geschmacklos dominiert zunächst auch im Deutschen, geht im 19. Jahrhundert stark zurück und findet sich Anfang des 20. Jahrhunderts nur noch vereinzelt. Wertfreie bis positive Verwendungen sind seit dem frühen 18. Jh. belegt. Die Baukunst des 13. bis 15. Jahrhunderts wurde zudem fälschlich zunächst dem germanischen Volksstamm der Goten zugeschrieben, dann lange Zeit als charakteristisch deutsch angesehen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Ursprung der Gotik in Frankreich zu suchen ist.